Merksatz
Das Arbeitgeberprivileg wird nur durchbrochen, wenn die Arbeitgeberin selbst (bzw. eines ihrer Organe) einen Berufsunfall mindestens grobfahrlässig (mit-)verursacht hat. Ein grobes Verschulden einer Hilfsperson reicht nicht aus. Der Organbegriff ist in diesem Zusammenhang nicht extensiv auszulegen.
Sachverhalt und Prozessgeschichte
Am 24. Dezember 2009 entfernten zwei Mitarbeitende der A. AG, der Lagerleiter und eine Aushilfe, direkt vor dem Warenlift einer von der A. AG gemieteten Liegenschaft eines von sechs Boden-Metallgittern (82 x 106 cm), um den Schmutz der sich darunter angesammelt hatte, zu entfernen. Unter den Metallgittern befanden sich nicht tragfähige Styroporplatten, die dazu dienten, einen Luftzug aus dem 2. Untergeschoss zu verhindern.
Ein Lagermitarbeiter (der Verunfallte) wollte in der Folge die Stelle mit dem fehlenden Metallgitter passieren, durchbrach dabei die Styroporplatten und stürzte rund 4 m tief auf den darunterliegenden Boden. Dabei zog er sich schwere Verletzungen zu.
Die von der AHV und der IV am 24. Februar 2016 beim Zivilgericht Basel-Stadt gegen den Werkeigentümer anhängig gemachte Regressklage wies zunächst das Zivilgericht und in der Folge auch das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt mit Blick auf das Regressprivileg der Arbeitgeberin nach Art. 75 Abs. 2 ATSG ab. Sie kamen zum Schluss, dass die privilegierte Arbeitgeberin im Innenverhältnis aufgrund der Regresskaskade gemäss Art. 51 Abs. 2 OR den gesamten Schaden hätte übernehmen müssen. Nachdem der auf einen privilegierten Haftpflichtigen entfallende Haftungsanteil nach der Rechtsprechung in BGE 143 III 79 vom Sozialversicherer zu tragen sei, verneinten die Gerichte daher einen Regressanspruch der Klägerinnen gegen den Werkeigentümer. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesgericht mit Urteil 4A_397/2019 (= BGE 146 III 362) vom 1. Juli 2020 ab, soweit es darauf eintrat.[1]
Gegenstand des vorliegend besprochenen Bundesgerichtsentscheids bildete die von AHV und IV am 16. November 2017 zusätzlich beim Zivilgericht Basel-Stadt eingereichte Regressklage gegen die Arbeitgeberin des Verunfallten. Am 30. September 2020 wies das Zivilgericht auch diese Klage ab. Die gegen diesen Entscheid erhobene Berufung wies das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 6. Juli 2022 ab. Es kam zum Schluss, die Arbeitgeberin beziehungsweise deren Organe hätten den Berufsunfall nicht herbeigeführt, weshalb nach Art. 75 Abs. 2 ATSG kein Rückgriffsrecht der AHV und IV auf die Arbeitgeberin bestehe.
Gegen dieses Urteil führten die AHV und IV Beschwerde ans Bundesgericht. In diesem Prozess war insbesondere strittig, ob der Wegfall des Regressprivilegs nach Art. 75 Abs. 2 ATSG voraussetzt, dass ein Organ der Arbeitgeberin einen Berufsunfall grobfahrlässig herbeiführt oder ob es vielmehr ausreicht, wenn der Unfall auf ein grobfahrlässiges Verhalten einer Hilfsperson der Arbeitgeberin zurückgeführt werden kann. Des Weiteren war umstritten, ob es sich beim Lagerleiter um ein (faktisches) Organ gehandelt hat und/oder ob eine Kompetenzdelegation vom formellen Organ an den Lagerleiter stattgefunden hat.
[1] Vgl. dazu auch die Urteilsbesprechung von Yael Strub in HAVE 2020, 373 ff.
Erwägungen des Bundesgerichts
a) Keine restriktive Anwendbarkeit des Regressprivilegs (E. 1)
Die Beschwerdeführerinnen stellten sich auf den Standpunkt, dass es «eine enorme Besserstellung des Haftpflichtigen zufolge der Subrogation des Sozialversicherers» bedeuten würde, wenn – wie bisher unter der Herrschaft des Haftungsprivilegs – verlangt würde, dass nur das grobe Verschulden eines Organs einer als Arbeitgeberin in Anspruch genommenen juristischen Person zum Wegfall des Regressprivilegs führen sollte.
Zunächst legt das Bundesgericht die Entstehungsgeschichte des Regressprivilegs dar, das bereits (damals als Haftungsprivileg) mit Art. 129 Abs. 2 KUVG 1911 Eingang in die Gesetzgebung fand, als Haftungsprivileg in aArt. 44 Abs. 2 UVG fortbestanden hat und erst im Rahmen der Entstehung des ATSG in ein Regressprivileg umgewandelt wurde. Im Verhältnis zur Arbeitgeberin habe sich für die Sozialversicherer durch die Gesetzesänderung mithin nichts geändert. Vielmehr bedeute auch das Regressprivileg nach wie vor, dass die Sozialversicherer die gesetzlichen Leistungen erbringen müssen, ohne auf die Arbeitgeberin Rückgriff nehmen zu können. Die Änderung betreffe primär einen allfälligen Direktschaden des Arbeitnehmers, den dieser von seiner Arbeitgeberin einfordern könne. Daraus lasse sich daher kein Grund für eine Einschränkung des Regressprivilegs konstruieren.
Bezweckte der Gesetzgeber beim Übergang zu einem reinen Regressprivileg zudem eine Erweiterung des Kreises der Personen, die das Privileg ausschliessen, wenn sie den Versicherungsfall absichtlich oder grobfahrlässig herbeigeführt haben, hätte sich dies nach Auffassung des Bundesgerichts im Wortlaut von Art 75 Abs. 2 ATSG niederschlagen müssen, wie dies bspw. in Art. 58 abs. 4 SVG der Fall sei. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass dem Gesetzgeber bei der Schaffung des ATSG durchaus bewusst gewesen sei, dass einzelne Autoren die gänzliche Abschaffung von Haftungs- und Regressprivilegien forderten, was sich aus den Materialien ergäbe.
Die Beschwerdeführerinnen stellten sich zudem auf den Standpunkt, dass eine potentielle Grobfahrlässigkeit einer Hilfsperson in Zusammenhang mit der Geltung eines Regressprivileg eine Rolle spielen müsse, ansonsten das Bundesgericht im Urteil 4A_548/2020 vom 28. Mai 2021 doch nicht geprüft hätte, ob – wie vom damaligen Beschwerdeführer geltend gemacht – eine grobe Fahrlässigkeit des Einsatzbetriebes vorgelegen habe, die dem Verleihbetrieb nach Art. 101 OR entgegenzuhalten sei und die das Haftungsprivileg nach aArt. 44 Abs. 2 UVG entfallen lasse.
Dem hält das Bundesgericht entgegen, dass dem Einsatzbetrieb aufgrund seiner Stellung als „faktischer“ Arbeitgeber während des Verleihs das Weisungsrecht zustehe, ihn aber auch die Fürsorgepflicht treffe. Dabei stelle die Delegation des Weisungsrechts ein wesentliches Element des Personalverleihs dar, so dass sich die Frage einer allfälligen Bedeutung dieser Delegation [in Zusammenhang mit der Beurteilung eines Regressprivilegs] gestellt hätte. Die Frage sei jedoch nicht an einem Fall zu erörtern gewesen, in dem ohnehin keine grobe Fahrlässigkeit gegeben gewesen sei.
b) Faktische Organschaft und/oder Delegation von Organbefugnissen (E. 2)
Nach Auffassung der Beschwerdeführerinnen war zudem von einer Durchbrechung des Regressprivilegs auszugehen, weil der Unfall durch ein (faktisches) Organ der Beschwerdegegnerin verursacht worden sei. So sei der Lagerleiter als Lagerchef für den Lagerbetrieb, die Bereitstellung der Waren, für den Abtransport sowie auch generell für die Sauberkeit im Lager zuständig gewesen. Er habe dabei die Verantwortung für ca. 10 bis 15 Mitarbeiter getragen, darunter Chauffeure und Lageristen. Bei seinem Aufgabenbereich habe es sich um einen sehr zentralen Geschäftsbereich im Unternehmen der Beschwerdegegnerin gehandelt. Die Beschwerdeführerinnen machten zudem geltend, der Lagerleiter habe auch keine spezifischen Vorgaben gehabt, wie er seine Arbeit verrichten solle.
Nach Auffassung des Bundesgerichts erscheint eine Ausdehnung des Organbegriffs auf Hilfspersonen nicht angezeigt, wenn es nicht die Absicht des Gesetzgebers war, das Regressprivileg der Arbeitgeberin mit Blick auf das Verschulden von Hilfspersonen entfallen zu lassen. Das Bundesgericht räumt zwar ein, dass die Sorge um den Schutz des Geschädigten in der Rechtsprechung teilweise möglichweise zu einer Ausdehnung des Organbegriffs geführt habe. Dies könne jedoch nicht ausschlaggebend sein, wenn – wie vorliegend in Zusammenhang mit einem reinen Regressprivileg – der Schutz des Geschädigten durch eine obligatorische Versicherung gewährleistet sei.
Schliesslich stellen sich die Beschwerdeführerinnen auf den Standpunkt, dass die Herbeiführung des Berufsunfalles im Rahmen einer Kompetenzdelegation vom formellen Organ an den Lagerchef erfolgt sei. Damit sei in Anlehnung an BGE 128 III 76 der Lagerchef als Organ der Beschwerdegegnerin anzusehen.
Nach Auffassung des Bundesgerichts hatte der Geschäftsführer die gefährliche Situation nicht selbst geschaffen und war damit auch nicht dafür verantwortlich, die zur Entschärfung der Gefahr notwendigen Massnahmen zu treffen. Zwar habe der Geschäftsführer vom Plan, die Gitter zu putzen, Kenntnis gehabt. Deren Wegnahme habe er aber nicht selbst angeordnet. Auch sei dem Geschäftsführer nicht bewusst gewesen, dass die Putzaktion die Entfernung der Gitter voraussetzte. Vielmehr habe der Geschäftsführer mit seinem Stillschweigen das Vorgehen in den Kompetenzbereich des Lagerleiters gestellt. Der Fall lasse sich daher nicht mit BGE 128 III 76 vergleichen.
Kommentar
a) Die extensive Anwendung des Regressprivilegs durch das Bundesgericht ist aus rechtshistorischen und teleologischen Gründen zu befürworten
Die Entstehung des Arbeitgeberprivilegs ist historisch eng mit der Entstehungsgeschichte der Unfallversicherung in der Schweiz gegen Ende des 19. Jahrhunderts bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts verknüpft.[1] So sah bereits der Vorentwurf des KUVG ein Haftungsprivileg des Arbeitgebers vor. Ein Verunfallter, der Leistungen von der Unfallversicherung enthielt, konnte daher selbst einen allfälligen (kongruenten) Direktschaden nur bei Vorsatz, Arglist oder Grobfahrlässigkeit gegenüber seinem Arbeitgeber geltend machen. Begründet wurde dies in der Botschaft[2] wie folgt:
«Der Ausschluss. eines Regressrechtes der Anstalt gegen den Arbeitgeber des Versicherten entspricht dem allgemeinen Grundsatz in Sachen der Versicherung, wonach der Versicherer sich jedes Regressrechtes gegen den Versicherungsnehmer entschlägt. Gerade hier spielt der Arbeitgeber die Rolle des Versicherungsnehmers zu Gunsten eines andern, da er mit der Anzeige an den Versicherer betraut ist (Art. 41, 47) und auch die Prämien bezahlt (Art. 81).»
In diesem Sinn fand denn das Haftungsprivileg denn auch Eingang ins KUVG und wurde im Rahmen der Entstehung des UVG im Jahr 1981 in Art. 44 aUVG weitestgehend übernommen.[3]
Mit der Schaffung des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) im Jahr 2000 wurde das in Art. 44 aUVG enthaltene Haftungsprivileg – entgegen der Empfehlung der Kommission des Ständerats[4]– durch ein in Art. 75 ATSG und Art. 27c BVV 2 normiertes allgemeines Regressprivileg ersetzt. Der Bundesrat begründete diesen Systemwechsel damit, dass der Rechtsgedanke in Art. 62 Abs. 3 SVG[5] «vernünftigerweise zu generalisieren» sei. Er führte dazu aus:
«Insoweit der Arbeitgeber Prämien für die Berufsunfallversicherung an den Sozialversicherer bezahlt hat, ist er zu entlasten. Deckt jedoch der Sozialversicherer den Schaden nicht ganz, so hat der Arbeitgeber in diesem nicht gedeckten Umfange auch keine Prämien bezahlt. Es ist daher billig, ihn für den ungedeckten Schaden direkt haftbar zu machen. Dieser Schadenersatzanspruch ist in der Regel durch die Berufshaftpflichtversicherung oder durch die Motorfahrzeughaftpflichtversicherung abgedeckt.»[6]
Mit dieser vom Bundesrat vorgeschlagenen Anpassung trat Art. 82 VE-ATSG denn auch am 6. Oktober 2000 als die bis heute gültigen Art. 75 Abs. 1 und 2 ATSG in Kraft.
Das Haftungsprivileg bzw. spätere Regressprivileg des Arbeitgebers der verunfallten Person ist nach dem Gesagten historisch unauflösbar mit der Tatsache verknüpft, dass die (individuelle) Haftung der Fabrikbetriebe bzw. deren Inhaber durch ein Versicherungssystem abgelöst, das hohe Risiko einer Schädigung im Rahmen der Berufsausübung demnach auf ein Kollektiv übertragen werden sollte, das – in Bezug auf Berufsunfälle – ausschliesslich durch die von den Arbeitgebern geleisteten Prämien finanziert wird. Bei der Privilegierung des Arbeitgebers handelt es sich daher nach der hier vertretenen Auffassung mit Schaer[7] um das zwingende Gegenstück dieser – ausschliesslich von der Gemeinschaft der Arbeitgebenden finanzierten – Kollektivierung des Schadenrisikos bei der Berufsausübung.[8]
Müsste der Arbeitgeber als prämienzahlender Versicherungsnehmer auch dann regressweise für (Berufs-)Unfallschäden eines Arbeitnehmers einstehen, wenn er diesen Schaden nicht selbst grobfahrlässig oder vorsätzlich (mit-)verursacht hätte, würde dies dem allgemeinen Grundsatz im Versicherungsrecht widersprechen, dass auf einen Rückgriff gegen den eigenen Versicherungsnehmer zu verzichten bzw. ein solcher nur in Ausnahmefällen zulässig ist.[9] In diesem Sinn setzt eine Leistungskürzung nach Art. 14 Abs 3 VVG auch im Privatversicherungsrecht im Falle einer Schadensverursachung durch eine Hilfsperson des Versicherungsnehmers bzw. Anspruchsberechtigten voraus, dass sowohl die Hilfsperson als auch der Versicherungsnehmer bzw. Anspruchsberechtigte ein schweres Verschulden zu vertreten haben.[10] Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb für den Sozialversicherungsregress von diesem Grundsatz abgewichen werden sollte.
Würde ein Rückgriff auf die Arbeitgeberin auch dann zugelassen, wenn lediglich eine Hilfsperson grobfahrlässig gehandelt hat, ohne dass die Arbeitgeberin selbst ein mindestens grobfahrlässiges Verhalten zu vertreten hat, würde dies zu einer vermehrten Durchbrechung des Arbeitgeberprivilegs führen, was der historisch bezweckten Kollektivierung von Arbeitsunfallrisiken entgegenlaufen würde. Die Arbeitgeberin müsste die bereits im Rahmen ihrer Unfallversicherungsprämie finanzierten Berufsunfälle ein zweites Mal – nämlich über ihre Haftpflichtversicherungspolice – bezahlen, was nach der klaren Wertung des Gesetzgebers nur gewollt ist, wenn sie selbst ein mindestens grobes Verschulden zu vertreten hat.[11]
Dies führt denn auch zum Schluss, dass das Arbeitgeberprivileg nach Art. 75 Abs. 2 i.V.m. Art. 75 Abs. 1 ATSG im Einklang mit dem vorliegend besprochenen Bundesgerichtsurteil extensiv auszulegen bzw. im Zweifel für eine Privilegierung zu entscheiden ist. Der Arbeitgeber soll bei Berufsunfällen nur dann regressweise für Sozialversicherungsleistungen einzustehen haben, wenn er selbst den Schaden seines Angestellten grobfahrlässig oder gar (eventual-)vorsätzlich (mit-)verursacht hat. Die (ausschliessliche) Grobfahrlässigkeit einer Hilfsperson reicht nicht aus, um das Regressprivileg der Arbeitgeberin zu durchbrechen.
b) Exkurs: Voraussetzungen für einen Rückgriff gegen den unfallverursachenden Lagerchef?
Unklar und spannend bleibt jedoch die Frage, wie die Gerichte entschieden hätten, wenn die Klägerinnen nicht gegen die Arbeitgeberin des Verunfallten, sondern direkt gegen den Lagerchef als Unfallverursacher vorgegangen wären. Nach Art. 75 Abs. 2 ATSG geniesst zwar auch der Lagerchef als «Arbeitnehmer des Arbeitgebers» bzw. als Arbeitskollege des Verunfallten ein Regressprivileg. Dieses wäre jedoch entfallen, wenn das Entfernen der Bodengitter ohne Markierung bzw. Absperrung des Gefahrenbereichs ein grobfahrlässiges Verhalten darstellen würde. Den regressierenden Versicherern wäre in diesem Fall ein Rückgriff gegen den Lagerchef – zumindest nach dem blossen Wortlaut des Gesetzes – wohl nicht verwehrt gewesen.
Ganz so einfach dürfte es aber nicht sein. Der Grund dafür ist im Arbeitsrecht zu finden. Gemäss Art. 321e OR ist der Arbeitnehmer für den Schaden verantwortlich, den er absichtlich oder fahrlässig dem Arbeitgeber zufügt. Das Mass der Sorgfalt, für die der Arbeitnehmer einzustehen hat, bestimmt sich nach dem einzelnen Arbeitsverhältnis, unter Berücksichtigung des Berufsrisikos, des Bildungsgrades oder der Fachkenntnisse, die zu der Arbeit verlangt werden, sowie der Fähigkeiten und Eigenschaften des Arbeitnehmers, die der Arbeitgeber gekannt hat oder hätte kennen sollen. Schädigt ein Arbeitnehmer bei der Ausübung seiner arbeitsvertraglichen Tätigkeit nicht den Arbeitgeber, sondern sich selbst oder einen Dritten, ist Art. 321e OR nach einem Teil der Lehre analog anwendbar. Dies bedeutet, dass der Arbeitnehmer, gegen den von einem geschädigten Dritten Schadenersatzansprüche geltend gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verrichtung der arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit stehen, Anspruch darauf hat, von seinem Arbeitgeber (ganz oder teilweise) von den gegen ihn gerichteten Ersatzforderungen freigestellt zu werden.[12]
Sollte die Entfernung der Bodengitter ohne anschliessende Absperrung des Gefahrenbereichs ein grobfahrlässiges Verhalten des Lagerchef darstellen und wäre dieser von den Klägerinnen erfolgreich auf Bezahlung ihrer Regressforderung belangt worden, verfügte der Lagerchef nach der vorerwähnten Auffassung demnach über einen Freistellungsanspruch gegenüber seiner Arbeitgeberin. Wirtschaftlich hätte demnach unter Umständen auch in diesem Fall die Arbeitgeberin als Versicherungsnehmerin und Prämienzahlerin die Regressforderung der regressierenden Sozialversicherer zu tragen. Noch schlimmer ist Situation für die Arbeitgeberin, weil es sich beim aus Art. 321e OR analog hergeleiteten Freistellungsanspruch nach einer in der Assekuranz verbreiteten Meinung nicht um einen gesetzlichen Haftungsanspruch, sondern vielmehr um einen arbeitsrechtlichen Anspruch handelt, was nach dieser Auffassung dazu führt, dass die Betriebshaftpflichtversicherung dafür keine Deckung zu gewähren hat.
In diesem Zusammenhang sei zudem der Hinweis gestattet, dass es aufgrund des (allzu) rudimentären Übergangsrechts zum teilrevidierten VVG (Art. 103a VVG) zusätzlich unklar ist, ob Art. 59 Abs. 2 VVG, wonach die Versicherungsdeckung der Betriebshaftpflichtversicherung zwingend auch Rückgriffsansprüche Dritter zu umfassen habe, nur auf nach Inkrafttreten des neuen Rechts geschlossene (oder nach diesem Zeitpunkt massgebend angepasste) Haftpflichtpolicen Anwendung findet.[13] Sollte Art. 59 Abs. 2 VVG erst auf neue bzw. massgebend angepasste Policen Anwendung finden – wovon vorliegend ausgegangen wird – dürften zudem ohnehin zahlreiche Betriebe, deren Betriebshaftpflichtversicherungspolice seit Inkrafttreten des neuen Rechts noch nicht angepasst oder erneuert wurde, über keine Versicherungsdeckung für Regressansprüche verfügen, zumal der entsprechende Ausschluss, die sog. Suva-Klausel, absolut branchenüblich und daher in fast allen Betriebshaftpflichtpolicen enthalten war.
Lässt man demnach einen Regress gegen den schädigenden Arbeitskollegen zu, obschon die Arbeitgeberin selbst kein Verschulden (bzw. keine Grobfahrlässigkeit) trifft, ermöglichte dies eine Aushebelung des Arbeitgeberprivilegs auf dem Umweg über die Regressnahme auf den schädigenden Mitarbeiter. Dies dürfte kaum den Wertungen des Bundesgerichts im vorliegend besprochenen Urteil entsprechen, wonach ein Rückgriff auf die Arbeitgeberin lediglich soweit zulässig ist, als diese selbst – bzw. eines ihrer Organe – ein grobes Verschulden zu vertreten hat.
Ein denkbarer Weg, mit dieser Problematik umzugehen, bestünde in einer analogen Anwendung der Rechtsprechung des Bundesgerichts in BGE 143 III 79 E. 6, wonach sich auch ein nicht privilegierter Schuldner gegenüber einem Sozialversicherer auf ein Regressprivileg berufen kann, soweit die Schuld ohne Regressprivileg intern vom Privilegierten zu übernehmen ist (das sog. indirekte Regressprivileg). Die Situation ist nämlich vergleichbar, zumal infolge der arbeitsrechtlichen Freistellungspflicht die Arbeitgeberin und damit eine (Regress-)Privilegierte die Schuld intern zu übernehmen hat. Auch wenn also der Arbeitskollege grobfahrlässig gehandelt haben sollte und seine Privilegierung daher aufgehoben ist, muss ein direkter Rückgriff gegen ihn am indirekten Arbeitgeberprivileg scheitern.
[1] Für eine detaillierte Darstellung vgl. Adrian Rothenberger, Zur Notwendigkeit einer Modernisierung des Arbeitgeberprivilegs, HAVE 2021, 373 ff.
[2] BBl 1906 VI 389.
[3] BBl 1981 I 755 f. Verzichtet wurde lediglich auf die Voraussetzung der faktischen Prämienzahlung für die Anwendbarkeit des Arbeitgeberprivilegs.
[4] Vgl. BBl 1991 II 185 ff.
[5] «Leistungen an den Geschädigten aus einer privaten Versicherung, deren Prämien ganz oder teilweise vom Halter bezahlt wurden, sind im Verhältnis seines Prämienbeitrages auf seine Ersatzpflicht anzurechnen, wenn der Versicherungsvertrag nichts anderes vorsieht.»
[6] BBl 1994 V 960.
[7] Schaer, a.a.O. Rz. 970, wo (ebenfalls) die Auffassung vertreten wird, dass der Sinn und Zweck der Privilegierung des Arbeitgebers darin bestehe, dass «er mittels Prämienleistung die Haftung durch einen Versicherungsschutz ersetzt.»
[8] Vgl. dazu auch Schaer, Grundzüge des Zusammenwirkens von Schadenausgleichsystemen, Basel/Frankfurt a.M. 1984, Rz. 967; Frésard-Fellay, Le recours subrogatoire de l’assurance-accidents sociale contre le tiers responsable ou son assureur, Zürich 2007, N 846 m.z.H.
[9] Vgl. dazu die Ausführungen in der Botschaft des Bundesrats zum KUVG in BBl 1906 VI 389.
[10] Vgl. BSK VVG-Süsskind, 2. Aufl., Art. 14 N 36.
[11] Vgl. dazu auch die diesbezüglichen Ausführungen von Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, 5. Aufl., Zürich 1995, § 10 N 110: «Bei Streichung der Haftpflicht des Arbeitgebers für Berufsunfälle – ohne Absicht und grobe Fahrlässigkeit – handelt es sich im UVG um die Privilegierung desjenigen, der die Prämien bezahlt hat: Er soll nicht zuerst den Versicherungsschutz finanzieren und nachher trotzdem noch den Schaden des Versicherten bezahlen, sofern ihn weder Absicht noch grobe Fahrlässigkeit an dessen Unfall trifft.»
[12] Vgl. BSK OR I-Portmann/Rudolph, Art. 321e N 24; Lea Heri, Verträgt sich die Suva-Klausel mit dem Freistellungsanspruch der Arbeitnehmer nach Art. 321e OR?, HAVE 2015, 146 ff. mit zahlreichen Hinweisen.
[13] Vgl. dazu Adrian Rothenberger, Mauerblümchen im Rampenlicht: Zur Veränderung des (extrasystemischen) Koordinationsrechts – Ausblick, in: Stephan Weber (Hrsg.), Personen-Schaden-Forum 2021, Zürich 2021, 312 f.; Clemens von Zedtwitz/Riccardo Maisano, Rückgriff des Privatversicherers gemäss Art. 95c revVVG – ab wann?, Jusletter vom 1. März 2021; Ignacio Moreno/Rolf Wendelspiess, Der Regress im neuen VVG, HAVE 2021, 245 ff.
Adrian Rothenberger
Dr. iur. | Rechtsanwalt | Partner
rothenberger@fellmann-rechtsanwaelte.ch
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