Merksatz

Ein Deckungsausschluss für Schäden «infolge Krankheitserregern für welche national oder international die WHO-Pandemiestufen 5 oder 6 gelten» kann bei einer objektivierten Auslegung nur so verstanden werden, dass die Versicherungsdeckung entfallen soll, wenn eine Epidemie Ausmasse erreicht, die einer Pandemie der Stufe 5 oder 6 der früheren WHO-Pandemiestufenordnung entspricht. Der entsprechende Deckungsausschluss ist zudem nicht objektiv ungewöhnlich. Es besteht daher unter der massgeblichen Police keine Versicherungsdeckung für Betriebsausfallschäden, welche durch Betriebsschliessungen zur Eindämmung von Covid-19 verursacht worden sind.

Sachverhalt und Erwägungen

A) Sachverhalt

Die B. AG, Betreiberin eines Lokals mit Restaurant und Bar, schloss bei der Helvetia Versicherungs-Gesellschaft eine «Geschäftsversicherung KMU» ab. Die darin enthaltene Fahrhabeversicherung umfasste unter der Rubrik «Weitere Gefahren» auch die Versicherung für Ertragsausfall und Mehrkosten infolge Epidemie bis zu einem Höchstbetrag von CHF 2’000’000.– bei einem Selbstbehalt von CHF 200.–.

Zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 verordnete der Bundesrat – gestützt auf Art. 7 des Epidemiengesetzes – unter anderem die Schliessung sämtlicher Restaurationsbetriebe (Art. 6 Abs. 2 lit. b und c Verordnung 2 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus [COVID-19]; [COVID-19-Verordnung 2; Änderung vom 16. März 2020]) ab 17. März 2020. Erst ab dem 11. Mai 2020 waren Restaurations- und Barbetriebe für das Publikum wieder eingeschränkt öffentlich zugänglich (Art. 6 Abs. 3 lit. bbis COVID-19-Verordnung 2 [Transitionsschritt 2: Restaurationsbetriebe; Änderung vom 8. Mai 2020]).

Nachdem sich die Helvetia geweigert hatte, der B. AG den durch die Betriebsschliessung verursachten Betriebsunterbruchschaden zu ersetzen, erhob diese Teilklage beim Handelsgericht des Kantons Aargau. Dieses hiess die Klage mit Urteil vom 17. Mai 2021 gut und verpflichtete die Helvetia, der B. AG CHF 40’000.- zuzüglich Zins zu 5 % seit dem 24. April 2020 zu bezahlen. Mit Urteil vom 5. Januar 2022 hiess das Bundesgericht die von Helvetia gegen das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Aargau eingereichte Beschwerde gut und wies die Klage der B. AG ab.

 

B) Die umstrittene Regelung in den AVB und ZB

Die Parteien waren sich einig, dass die Zusatzbedingungen «Geschäftsversicherung KMU, Erweiterte Versicherung für Nahrungs- und Futtermittel sowie Tiere, Ausgabe April 2017» (nachfolgend: Zusatzbedingungen) durch Globalübernahme Bestandteil des zwischen den Parteien geschlossenen Versicherungsvertrags geworden war.

Bestimmung B1 der Zusatzbedingungen hält in der Rubrik «Versichert sind» unter dem Titel «Epidemie» fest, dass Schäden versichert sind «infolge von Massnahmen, die eine zuständige schweizerische oder liechtensteinische Behörde aufgrund gesetzlicher Bestimmungen verfügt, um durch: a) Schliessung oder Quarantäne von Betrieben oder Betriebsteilen sowie Einschränkungen der betrieblichen Tätigkeit […] die Verbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhindern».

In der Rubrik «Nicht versichert sind» umschreibt Bestimmung B2 der Zusatzbedingungen ebenfalls unter dem Titel «Epidemie», welche Risiken in diesem Bereich vom Versicherungsschutz ausgenommen sind. Nicht versichert sind danach «Schäden infolge von Influenza-Viren und Prionkrankheiten (Scrapie, Rinderwahnsinn, Creutzfeldt-Jakob usw.) sowie infolge Krankheitserregern für welche national oder international die WHO-Pandemiestufen 5 oder 6 gelten».

 

C) Die WHO-Pandemiestufen aus dem Jahr 2005

Die WHO-Pandemiestufen finden sich nach den unbestrittenen Feststellungen des Handelsgerichts in dem in englischer Sprache gehaltenen «WHO global influenza preparedness plan» aus dem Jahr 2005 und lauten wie folgt:

«Phase 5: Larger cluster(s) but human-to-human spread still localized, suggesting that the virus is becoming increasingly better adapted to humans, but may not be fully transmissible (substantial pandemic risk).

Phase 6: Pandemic: increased and sustained transmission in general population».

Zwischen den Parteien unbestritten war zudem, dass die Einteilung von Pandemien in sechs Phasen oder Stufen gemäss dem genannten Plan der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits vor Abschluss des hier strittigen Versicherungsvertrages, der im Zeitraum zwischen dem 12. Oktober 2017 (Antrag der Beschwerdegegnerin) und dem 17. August 2018 (Ausstellung der Police durch die Beschwerdeführerin) liege, überholt war, und diese nicht mehr in Gebrauch gewesen sei. Die WHO folge seit 2013 einem System von vier Pandemiephasen. Die Pandemien würden von der WHO seither dynamisch beschrieben, und ihr Ablauf werde in einem Schaubild grafisch dargestellt, was aus dem WHO-Handbuch «Pandemic influenza risk management» vom Mai 2017 hervorgehe.

 

D) Die gerichtlichen Erwägungen

Nach einer lehrbuchhaften Darstellung der Grundsätze zur Auslegung von Klauseln in Versicherungsverträgen widmet sich das Bundesgericht zunächst der zwischen den Parteien strittig gebliebenen Frage, ob die Bestimmung B2 vom Konsens der Parteien erfasst und damit Vertragsbestandteil geworden oder dies infolge Ungewöhnlichkeit der entsprechenden Bestimmung nicht der Fall sei. In einem zweiten Teil überprüft es die Auslegung des Deckungsausschlusses B2 durch das Handelsgericht.

 

1. Bestimmung B2 vom Konsens erfasst oder ungewöhnlich?

a) Parteistandpunkte

Wie sich dem Urteil des Handelsgerichts entnehmen lässt, stellt sich die B. AG im Wesentlichen auf den Standpunkt, dass die von ihr abgeschlossene Versicherungspolice Deckung gegen Ertragsausfall und Mehrkosten infolge Epidemie gewähre. Im normalen Sprachgebrauch verstehe man darunter eine Krankheit, von der typischerweise viele Menschen gleichzeitig befallen werden und die sich schnell verbreitet. Da nach dem massgeblichen allgemeinen Sprachgebrauch von einer Epidemie erst ab WHO-Pandemiestufe 5 oder 6 gesprochen werden könne, höhle die Beklagte den versprochenen Versicherungsschutz aus und enttäusche die berechtigten Deckungserwartungen der Klägerin bei Vertragsschluss, wenn sie den Versicherungsschutz für entsprechende Schäden ausschliesse. Die Deckungsausschlussklausel sei damit im Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht vom Konsens der Parteien getragen gewesen und folglich ungültig.

Die Helvetia stellt sich demgegenüber auf den Standpunkt, das von der B. AG abgeschlossene, auf KMU zugeschnittenen (und entsprechend günstige) Standard-Versicherungsprodukt versichere nicht Pandemien, sondern lediglich Epidemien, also örtlich begrenzte Krankheitsereignisse. Mit Deckungsausschlüssen für höhere Gewalt wie dem vorliegenden Pandemieausschluss würden Versicherer grossflächige Risiken und Ereignisse von der Deckung ausschliessen, die den Versichertenbestand schweizweit betreffen könnten. Ein solcher Ausschluss sei üblich und nicht unerwartet.

 

b) Urteil des Handelsgerichts des Kantons Aargau

Nach Auffassung des Handelsgerichts des Kantons Aargau ist der Deckungsausschluss in Bestimmung B2 für die mit der Versicherungsbranche nicht vertraute B. AG subjektiv ungewöhnlich. Aufgrund des allgemeinen Verständnisses des Begriffs «Pandemie» und mangels näherer Umschreibung der WHO-Pandemiestufen 5 und 6 oder der Angabe eines Internet-Dateipfads zu solchen Angaben sei es der B. AG zur Zeit des Vertragsschlusses nicht möglich gewesen, anhand der Vertragsbestimmungen den Umfang des Deckungsausschlusses für Schäden zu erfassen. Sie habe nicht damit rechnen müssen, dass der Verweis auf die WHO-Pandemiestufen 5 und 6 zur Folge haben könnte, dass sämtliche pandemischen Ereignisse von der Deckung ausgeschlossen sein würden. Eine objektive Ungewöhnlichkeit wurde vom Handelsgericht jedoch verneint, da der Vertrag keinen geschäftsfremden Inhalt aufweise. Dass die Bestimmung B2 vom Konsens der Parteien erfasst werde, setze nicht voraus, dass die WHO-Pandemiestufen 5 und 6 im Vertrag selbst detailliert umschrieben oder bestimmt worden seien. Vielmehr sei es ausreichend, dass das Dokument der WHO, worin die Pandemiestufen definiert würden, im Zeitpunkt des Vertragsschlusses über das Internet zugänglich gewesen sei. Damit sei die Bestimmung B2 vom Konsens der Parteien erfasst.

 

c) Urteil des Bundesgerichts

Das Bundesgericht bestätigt, dass ein Konsens nicht voraussetze, dass für jeden in den allgemeinen Geschäftsbedingungen verwendeten Begriff Definitionen oder Erläuterungen im Volltext in den AGB abgedruckt werden müssten. Vielmehr könnten in den allgemeinen Geschäftsbedingungen auch von Dritten entwickelte Definitionen – wie das vorliegend als anwendbar erklärte (frühere) Pandemiestufensystem der WHO – als für die Parteien massgebend erklärt werden.

Nachdem die subjektive Ungewöhnlichkeit im bundesgerichtlichen Verfahren nicht mehr strittig war, hatte das Bundesgericht lediglich noch die objektive Ungewöhnlichkeit der Bestimmung B2 zu prüfen. Wie das Handelsgericht verneinte das Bundesgericht eine objektive Ungewöhnlichkeit des Deckungsausschlusses B2. Die B. AG habe bei der Helvetia eine «Geschäftsversicherung KMU» abgeschlossen, enthaltend eine Fahrhabeversicherung sowie eine Betriebs- und Unfallversicherung. Die Fahrhabeversicherung umfasse unter der Rubrik «Weitere Gefahren» auch die Versicherung infolge Ertragsausfall und Mehrkosten infolge Epidemie. Die Epidemie sei damit bloss eine unter mehreren Gefahren, welche die von der Beschwerdegegnerin abgeschlossene Versicherung deckt. Durch den Ausschluss in B2 werde die durch die «Geschäftsversicherung KMU» gewährte Versicherungsdeckung nicht insofern reduziert, als gerade die häufigsten Risiken nicht mehr gedeckt wären. Im Gegenteil werde mit dem Pandemieausschluss ein seltenes Risiko aus der Versicherungsdeckung ausgenommen. Durch den Deckungsausschluss in Bestimmung B2 werde weder der Charakter der «Geschäftsversicherung KMU» wesentlich geändert, noch falle diese deswegen in erheblichem Masse aus dem gesetzlichen Rahmen des Vertragstypus.

Das Handelsgericht habe daher zu Recht festgestellt, dass die Bestimmung B2 vom Konsens der Parteien erfasst werde.

 

2. Auslegung der Bestimmung B2

a) Parteistandpunkte

Die B. AG stellte sich auf den Standpunkt, die Helvetia habe für den Deckungsausschluss ausdrücklich das objektive Kriterium der Geltung von Pandemiestufe 5 oder 6 stipuliert. Am 11. März 2020 habe die WHO Covid-19 als Pandemie bezeichnet. Weil zu jenem Zeitpunkt das frühere sechsstufige Klassifikationssystem aber überholt und nicht mehr in Gebrauch gewesen sei, habe die Erklärung der WHO auf keine Pandemiestufe Bezug genommen, sondern übereinstimmend mit den aktuellen Richtlinien die Covid-19-Erkrankung nur generell Pandemie genannt. Weder die WHO noch eine andere internationale oder nationale Behörde habe festgelegt, dass eine Pandemiestufe 5 oder 6 gelte, auch wenn diese Stufen inhaltlich erreicht wären. Die Helvetia wolle nunmehr keine Deckung bieten, wenn im Sinne der WHO überhaupt eine Pandemie vorliege, ungeachtet der Pandemiestufen. Die Klausel könne vom Versicherungsnehmer aber ebenso gut so verstanden werden, dass die Deckung erst entfalle, wenn das objektiv festgeschriebene Kriterium der Geltung einer Pandemiestufe 5 oder 6 erfüllt sei, was vorliegend nicht zutreffe. Nach der Unklarheitsregel sei die Klausel daher zulasten der Beklagten auszulegen und der Klägerin Deckung aus der Epidemieversicherung zu gewähren.

Die Helvetia auf der anderen Seite war der Auffassung, dass der positiv umschriebene Versicherungsschutz unter dem Titel «Epidemie» stehe. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) spreche von einer «Epidemie» bei einer Infektionskrankheit, die stark gehäuft, örtlich und zeitlich begrenzt auftrete. Damit seien Pandemien bereits sprachlich nicht vom Versicherungsschutz umfasst. Als Pandemie bezeichne das BAG die Ausbreitung einer bestimmten Infektionskrankheit in vielen Ländern bzw. Kontinenten. Der Versicherungsvertrag schütze seinem Wortlaut nach primär vor bekannten und lokalen Krankheitsereignissen, was der Pandemieausschluss in Bestimmung B2 bestätige. Nachdem der Generaldirektor der WHO Covid-19 am 11. März 2020 ausdrücklich als Pandemie eingestuft habe, sei klar, dass die Voraussetzungen für die Pandemiestufe 6 erfüllt seien. Das gestehe selbst die B. AG zu. Damit seien die Voraussetzungen des Deckungsausschlusses erfüllt. Das Auslegungsergebnis sei klar, die Unklarheitsregel komme nicht zur Anwendung.

 

b) Das Urteil des Handelsgerichts Aargau

Nach Auffassung des Handelsgerichts sind Pandemien lediglich Epidemien grossen Ausmasses. «Sie unterscheiden sich von Epidemien einzig hinsichtlich der flächenmässigen Ausdehnung der massiert auftretenden Infektionskrankheit und ihre Folgen werden vom Versicherungsvertrag nicht grundsätzlich von der Deckung ausgeschlossen» (E. 7.2.). Vielmehr setze der Wegfall der Versicherungsdeckung nach Bestimmung B2 voraus, dass für die schadensstiftenden Krankheitserreger die WHO-Pandemiestufen 5 oder 6 gelten würden. Diese Formulierung sei mit Blick auf die in Bestimmung B1 umschriebene Versicherungsdeckung für Epidemien nach Treu und Glauben so zu verstehen, dass entweder eine zuständige internationale Behörde, namentlich die WHO, erklärt habe, der epidemisch auftretende Krankheitserreger erfülle die Kriterien von Pandemiestufe 5 oder 6, oder sich eine für Massnahmen zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten in der Schweiz zuständige schweizerische oder in Liechtenstein zuständige liechtensteinische Behörde bei der Anordnung von Massnahmen zur Bekämpfung eines bestimmten Krankheitserregers auf die WHO-Pandemiestufen 5 oder 6 berufen habe. Nachdem sich weder eine zuständige internationale oder schweizerische Behörde im Zusammenhang mit dem Covid-19-Virus oder im Rahmen der Anordnung von Massnahmen zu dessen Bekämpfung auf die Pandemiestufe 5 oder 6 berufen habe, greife der Ausschluss in B2 nicht und Helvetia habe grundsätzlich Deckung zu gewähren.

 

c) Das bundesgerichtliche Urteil

Von der verbindlichen Feststellung des Handelsgerichts ausgehend, dass ein branchenfremder Versicherungsnehmer wissen müsse, dass es sich bei einer Pandemie um eine auf grosse Teile eines Landes oder Erdteils übergreifende Epidemie handle, war nach Auffassung des Bundesgerichts aus dem Wortlaut der Klausel B2 klar ersichtlich, dass solche Pandemien nach dem in der Klausel B2 referenzierten System der WHO in verschiedene Stufen eingeteilt waren und davon die Stufen 5 und 6 aus der Versicherungsdeckung ausgenommen wurden. Die B. AG musste daher nach Treu und Glauben verstehen, dass mit den Pandemiestufen 5 und 6 die beiden höchsten Pandemiestufen gemeint seien, auch wenn sie das WHO-Pandemiestufensystem nicht (im Detail) kannte. Die B. AG als redliche Geschäftspartnerin hätte daher erkennen müssen, dass die Helvetia die weitreichendste Ausprägungen des grundsätzlich versicherten Risikos einer Epidemie, eine Pandemie, von der Versicherungsdeckung ausnehmen wolle.

Der Auslegung des Handelsgerichts, wonach sich eine Behörde auf die WHO-Pandemiestufen 5 und 6 hätte berufen müssen, damit der Deckungsausschluss greife, könne nicht gefolgt werden. Da die WHO das Klassifizierungssystem von Pandemien bereits vor Abschluss des Versicherungsvertrags geändert habe und folglich weder die WHO noch eine schweizerische oder liechtensteinische Behörde sich während der Geltungsdauer des vorliegenden Versicherungsvertrags je auf solche Pandemiestufen beziehen konnte, hätte die buchstabengetreue Auslegung des Handelsgerichts zur Folge, dass der in der Klausel B2 beschriebene Deckungsausschluss nie greifen könnte und somit toter Buchstabe bliebe. Es hätte der B. AG als redlicher Geschäftspartnerin klar sein müssen, dass Helvetia keine solche leer gehende Regelung bezwecken wollte. Unter Berücksichtigung des Zwecks der Bestimmung sei somit klar, wie die Klausel B2 der Zusatzbedingungen zu verstehen sei: der B. AG durfte und musste klar sein, dass von der grundsätzlichen Deckung der Schäden bei Epidemien (Bestimmung B1) die gravierendsten Risiken ausgenommen seien, nämlich nach der Bestimmung B2 Pandemien, die als WHO-Pandemiestufen 5 und 6 zu beurteilen wären. Nachdem die COVID-19-Pandemie von den Parteien übereinstimmend und zu Recht als eine Pandemie der WHO-Pandemiestufen 5 oder 6 beurteilt werde, bestehe nach Bestimmung B2 entgegen der Auffassung des Handelsgerichts keine Versicherungsdeckung für die dadurch verursachten Schäden.

Kommentar

A) Methodik

Nach der hier vertretenen Auffassung ist – entgegen der Vorgehensweise der beiden Gerichte – erst nach Ermittlung des Vertragsinhalts durch die Methoden der Vertragsauslegung die Frage zu klären, ob eine Vertragsbestimmung in allgemeinen Versicherungsbedingungen ungewöhnlich ist und daher nicht vom Konsens der Parteien erfasst wird, kann die Frage nach der subjektiven und objektiven Ungewöhnlichkeit doch nur schwer beantwortet werden, wenn noch gar nicht feststeht, welche materielle Bedeutung einer Klausel überhaupt zukommt.

B) Auslegung der Bestimmung B2

Allgemeine Versicherungsbedingungen sind – als Anwendungsfall von allgemeinen Geschäftsbedingungen – grundsätzlich nach denselben Prinzipien auszulegen wie andere vertragliche Bestimmungen. Entscheidend ist demnach in erster Linie der übereinstimmende wirkliche Wille der Vertragsparteien und in zweiter Linie, falls ein übereinstimmender wirklicher Wille nicht festgestellt werden kann, der mutmassliche Parteiwille.

Zur Ermittlung des mutmasslichen Parteiwillens sind die Erklärungen der Parteien aufgrund des Vertrauensprinzips so auszulegen, wie sie nach ihrem Wortlaut und Zusammenhang sowie den gesamten Umständen verstanden werden durften und mussten. Dabei hat der Richter vom Wortlaut auszugehen und zu berücksichtigen, was sachgerecht erscheint. Er orientiert sich dabei am dispositiven Recht, weil derjenige Vertragspartner, der dieses verdrängen will, das mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck bringen muss. Bei der Interpretation breit angelegter allgemeiner Vertragsbestimmungen muss nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung der systematischen Auslegung erhebliches Gewicht beigemessen werden.

Primäres Auslegungsmittel für die Ermittlung des mutmasslichen Parteiwillens bildet der Wortlaut, also die von den Vertragsparteien verwendeten Worte. Dabei ist ohne andere Anhaltspunkte davon auszugehen, dass die Parteien den verwendeten Worten denjenigen Sinngehalt beigemessen haben, den ihnen nach dem allgemeinen Sprachgebrauch (der «Umgangssprache») zur Zeit und am Ort des Vertragsschluss zugekommen ist.

Haben einzelne oder mehrere der verwendeten Worte einen besonderen Sinn im Verkehrs- bzw. Fachkreis, dem alle vertragsschliessenden Parteien angehören, so geht dieser besondere Sinn dem allgemeinen Sprachgebrauch vor. Dies gilt auch dann, wenn eine Partei zwar dem betreffenden Fach- oder Verkehrskreis nicht angehört, jedoch mit den Gebräuchen dieser Branche vertraut ist, wenn die branchenkundige Partei die andere auf die besondere Bedeutung des Wortes hinweist, oder wenn von der branchenunerfahrenen Partei nach Treu und Glauben erwartet werden kann, dass sie sich über die Bedeutung des Wortes erkundigt. Dieser Vorrang der Bedeutung von Fachausdrücken gilt auch für Ausdrücke in allgemeinen Versicherungsbedingungen. 

Verwenden die Parteien eines oder mehrere Worte, denen eine juristisch-technische Bedeutung zukommt, so besteht die Vermutung, dass geschäftserfahrene oder juristisch beratene Parteien die verwendeten Begriffen in diesem technischen Sinn verstanden haben. 

Unabhängig davon, ob eine Vertragsbestimmung nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, ihrem Sinn im Verkehrs- bzw. Fachkreis oder nach ihrer juristisch-technischen Bedeutung auszulegen sind: immer gilt, dass einzelne Worte nicht isoliert, sondern unter Berücksichtigung ihres konkreten Zusammenhangs im Satz bzw. ganzen Text betrachtet werden müssen. Die Auslegung nach dem Wortlaut folgt mit anderen Worten einem hermeneutischen Zirkel, wonach das Verständnis eines Satzes/ganzen Texts nur möglich ist, wenn die Bedeutung der einzelnen Ausdrücke verstanden werden, dass aber die Bedeutung eines einzelnen Ausdrucks ebenfalls massgeblich von dessen Verwendung im Satz- bzw. Textgefüge abhängig ist. Bei der Auslegung von Vertragsbestimmungen ist daher immer auch das systematische Element zu berücksichtigen, und zwar bereits bei der Analyse des Wortlauts.

Wenn eine Klausel nach der Auslegung gemäss den dargelegten Grundsätzen mehrdeutig bleibt (und nur dann), ist sie schliesslich nach der Unklarheitsregel («In dubio contra stipulatorem») gegen ihren Verfasser auszulegen. Für Versicherungsverträge wird die Unklarheitsregel in Art. 33 VVG präzisiert. Danach haftet das Versicherungsunternehmen mangels anderweitiger gesetzlicher Regelung für alle Ereignisse, welche die Merkmale der Gefahr, gegen deren Folgen Versicherung genommen wurde, an sich tragen, es sei denn, dass der Vertrag einzelne Ereignisse in bestimmter, unzweideutiger Fassung von der Versicherung ausschliesst. Die Unklarheitsregel darf jedoch – auch bei Versicherungsverträgen – erst bei Versagen aller übrigen Auslegungsgrundsätze herangezogen werden, also wenn der übereinstimmende wirkliche Parteiwille unbewiesen ist und der mutmassliche Parteiwille im Rahmen der objektivierten Auslegung unklar bleibt.

Der vom Handelsgericht des Kantons Aargau geschützte Standpunkt der B. AG, wonach der Deckungsausschluss in B2 nur Anwendung finde, wenn sich eine zuständige Behörde tatsächlich auf die WHO-Pandemiestufe 5 oder 6 berufe habe, hält – wie das Bundesgericht zu Recht festhält – einer Auslegung nach dem Vertrauensprinzip nicht statt. Die WHO-Pandemiestufenordnung, auf die sich der Deckungsausschluss in B2 bezieht, war bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses überholt. Es war damit bereits bei Vertragsschluss ausgeschlossen, dass eine zuständige nationale oder internationale Behörde offiziell eine Pandemie der Stufe 5 oder 6 ausrufen würde. Es musste daher auch für die B. AG als redliche Geschäftspartnerin klar sein, dass es Sinn und Zweck der Bestimmung B2 war, Pandemien, welche nach der früher geltenden WHO-Pandemiestufenordnung als Pandemie der Stufe 5 oder 6 zu qualifizieren gewesen wären, von der Versicherungsdeckung auszunehmen. Die B. AG durfte mit anderen Worten bei Vertragsschluss nicht in guten Treuen davon ausgehen, dass die Helvetia eine Klausel vereinbaren wollte, der von Vornherein keine rechtliche Relevanz zukommen würde. Wie das Bundesgericht zu Recht festgestellt hat, ist der mutmassliche Parteiwille bei einer objektivierten Auslegung deshalb klar, womit die Unklarheitsregel keine Anwendung findet. 

C) Ungewöhnlichkeit der Bestimmung B2?

Die Geltung vorformulierter allgemeiner Geschäftsbedingungen wird nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zusätzlich durch die Ungewöhnlichkeitsregel eingeschränkt. Danach sind von der global erklärten Zustimmung zu allgemeinen Vertragsbedingungen alle ungewöhnlichen Klauseln ausgenommen, auf deren Vorhandensein die schwächere oder weniger geschäftserfahrene Partei nicht gesondert aufmerksam gemacht worden ist. Der Verfasser von allgemeinen Geschäftsbedingungen muss nach dem Vertrauensgrundsatz mit anderen Worten davon ausgehen, dass ein unerfahrener Vertragspartner ungewöhnlichen Klauseln nicht zustimmt. Die Ungewöhnlichkeit beurteilt sich aus der Sicht des Zustimmenden im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Für einen Branchenfremden können deshalb auch branchenübliche Klauseln ungewöhnlich sein.

Die Ungewöhnlichkeitsregel kommt jedoch nur dann zur Anwendung, wenn neben der subjektiven Voraussetzung des Fehlens von Branchenerfahrung die betreffende Klausel objektiv beurteilt einen geschäftsfremden Inhalt aufweist. Dies ist dann zu bejahen, wenn sie zu einer wesentlichen Änderung des Vertragscharakters führt oder in erheblichem Masse aus dem gesetzlichen Rahmen des Vertragstypus fällt. Je stärker eine Klausel die Rechtsstellung des Vertragspartners beeinträchtigt, desto eher ist sie als ungewöhnlich zu qualifizieren. Bei Versicherungsverträgen sind die berechtigten Deckungserwartungen zu berücksichtigen.

Den bundesgerichtlichen Erwägungen zur objektiven Ungewöhnlichkeit der Bestimmung B2 kann grundsätzlich vorbehaltlos beigepflichtet werden. In der Tat handelt es sich bei der Epidemiedeckung lediglich um die Deckung eines Sonderrisikos in der Fahrhabeversicherung, die wiederum nur ein Teil des Deckungsumfangs der Geschäftsversicherung KMU darstellt. Unter diesen Umständen ist klar, dass eine Beschränkung der Versicherungsdeckung auf (lokale) Epidemien bzw. der Ausschluss des Grossrisikos Pandemie weder einen geschäftsfremden Inhalt darstellt noch zu einer wesentlichen Änderung des Vertragscharakters führt oder in erheblichem Masse aus dem gesetzlichen Rahmen des Vertragstypus fällt. Aus Sicht der Versicherungsindustrie sind Deckungsausschlüsse für derartige Grossrisiken (zumal in einer Standardpolice) vielmehr zentral, da bei einer Realisierung derartiger Risiken aufgrund der plötzlichen, überregionalen und hohen Anzahl gleichartiger Schadenfälle die Grundfunktion einer Versicherung, der Transfer des finanziellen Risikos einer beschränkten Anzahl von einem Schadenereignis betroffener Kunden auf eine Vielzahl von diesem Risiko nicht betroffener (prämienzahlender) Kunden, nicht mehr funktioniert.

D) Fazit

Mit dem Bundesgericht kann dem Deckungsausschluss in B2 keine andere (vernünftige) Bedeutung zuerkannt werden als diejenige, dass eine Versicherungsdeckung entfällt, wenn eine (an sich versicherte) Epidemie eine Intensität erreicht, welche die Voraussetzungen der früheren WHO-Pandemiestufe 5 oder 6 erfüllt. Jedes andere Verständnis hätte zur Folge, dass der Klausel bereits bei Vertragsschluss keine rechtliche Bedeutung mehr zugekommen wäre, wovon zwischen redlichen Geschäftspartnern nicht ausgegangen werden darf. Auch ist der Deckungsausschluss sachlich berechtigt, stellt keinen geschäftsfremden Inhalt dar und ist daher auch nicht objektiv ungewöhnlich.

Adrian Rothenberger

Adrian Rothenberger

Dr. iur. | Rechtsanwalt | Partner

rothenberger@fellmann-rechtsanwaelte.ch

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